und

Christian Felber / aus GWÖ Buch : 

6. Weiterentwicklung der Demokratie

» Echte Demokratie ist doch keine hohle Phrase.«     Albert Einstein

Obwohl wir formal in Demokratien leben, empfinden immer weniger Menschen, dass sie das gesellschaftliche Leben

tatsächlich mitbestimmen können. Immer häufiger treffen Regierungen Entscheidungen, welche den Bedürfnissen und

Interessen der Mehrheit der Bevölkerung zuwiderlaufen: die Deregulierung der Finanzmärkte, die Nichtzerteilung

systemrelevanter Banken, die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen wie Trinkwasser- und Energieversorger,

Bahn, Post oder Banken; das Lostreten globaler Standortkonkurrenz durch »Freihandelsabkommen«, die

Liberalisierung des Kapitalverkehrs bis in die letzte Steueroase; das Zulassen der Einkommensungleichheit bis zum

350.000-Fachen; die Durchsetzung von Gentechnik in der Landwirtschaft; die Legalisierung von Patenten auf

Lebewesen; der Euratom-Vertrag; die Aufrüstungsverpflichtung im EU-Lissabon-Vertrag; die brutale Repression der

DemonstrantInnen beim Klimagipfel in Kopenhagen, Folter in Guantánamo, der völkerrechtswidrige Angriffskrieg

gegen den Irak und seit 2008 die unsägliche Bankenrettungspolitik zugunsten systemrelevanter Großkonzerne: Bei

direktdemokratischen Verfahren wäre in den meisten Ländern vermutlich keine dieser Entscheidungen mehrheitsfähig.

Trotzdem wurden sie formal von demokratisch legitimierten Regierungen und Parlamenten getroffen. Die Ursachen für

die wachsende Distanz zwischen den BürgerInnen und ihren VertreterInnen, in der Politikwissenschaft auch »Krise der

Repräsentation« genannt, sind mehrere:

1. Wer nur alle vier oder fünf Jahre einmal ein Parteiprogramm wählen darf, hat so gut wie nichts in der Hand. Denn

die Wahlversprechen sind genauso inflationär wie unverbindlich. Wenn die Regierung ihre Versprechen nicht einlöst,

sind wir WählerInnen weitgehend machtlos. Wir müssen bis zur neuen Wahl warten und könnten dann eine Regierung

dafür »abstrafen«, dass sie ein uns besonders wichtiges Versprechen gebrochen hat. Bloß wie? Müssen wir deswegen

die Partei wechseln? Gibt es überhaupt eine Partei, deren Programm mir in Summe besser gefällt? Was, wenn gar

keine kandidierende Partei die für mich wichtigsten Inhalte im Programm hat? Was, wenn die »bestrafte« Partei gar

nicht versteht, wofür sie bestraft wurde, weil es nicht möglich ist, sie für eine einzelne Sachentscheidung zu bestrafen,

sondern nur für die gesamte Legislaturperiode?

2. Die ökonomischen Eliten verschmelzen immer mehr mit den politischen Eliten, oft wechseln Spitzenmanager oder

Großunternehmer direkt in die Regierung und Minister und Kanzler zurück in den Lobbyismus. 80 Eine kleine

Auswahl: Theo Waigel zur Texas Pacific Group ; Rudolf Scharping zu Cerberus ; der ehemalige Chef der

Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerstner, zu Fortress ; Ron Sommer (unter dem die Deutsche Telekom an die Börse

ging) zu Blackstone (alles Private-Equity-Fonds), Gerhard Schröder zu Gazprom , Wolfgang Schüssel zu RWE ,

Brigitte Ederer zu Siemens , Alfred Gusenbauer zur Strabag und Karl-Heinz Grasser zu diversen Finanzfonds.

»Umgekehrt« arbeiten in Deutschland 300 »Leihbeamte« von Konzernen direkt in den höchsten Etagen der Verwaltung

mit. 81 Die mächtigsten Banker schreiben die Bankenrettungsgesetze, und die Parlamente unterschreiben sie. Das

Problem dieser sozialen Intimität zwischen Politik und Wirtschaft wird umso brennender, je reicher und mächtiger die

ökonomischen Eliten werden. Das zeigt, dass ökonomische Eliten an sich das Problem sind – und erhärtet die

Forderung nach Begrenzung der Ungleichheit. Materielle Eliten stehen im Widerspruch zu einer demokratischen

Gesellschaft, in der alle Menschen gleiche Rechte, Chancen und Mitbestimmungsmöglichkeiten vorfinden sollten.

3. Diese Eliten haben auch einen überproportionalen Einfluss auf die maßgeblichen Medien: durch persönliche

Kontakte mit leitenden JournalistInnen, die diesen Kontakt suchen und pflegen, um sich wertvolle Informationsquellen

zu sichern; durch das Teilen von Werten mit den medialen Eliten (die Mächtigen sind, wenn es um Machterhalt geht,

hochgradig kooperativ); durch Werbeeinschaltungen, von denen die Medien ökonomisch abhängig sind und an die sie

die redaktionelle Linie anpassen; und in Form direkter Kontrolle über Eigentum: Viele Zeitungen und TV-Sender

gehören heute Banken, Finanzinvestoren oder Rüstungskonzernen: Das darf nicht sein.

4. Auch der wissenschaftliche Mainstream folgt mitunter der Meinung der Mächtigen. Zwar bieten »freie«

Universitäten immer auch Raum für alternative Ansätze, doch der »Hauptstrom« fließt entlang der Weltbilder der

Mächtigen, weil a) viele Intellektuelle aus gutem Hause kommen und Partei für die eigene »Klasse« ergreifen; b) die

Universitäten im Zuge der Liberalisierung immer mehr auf Drittmittel aus der Wirtschaft angewiesen sind; und c)

private Interessengruppen den öffentlichen Geldmangel nicht nur verursachen, sondern auch ausnutzen, indem sie ihre

ideologischen MultiplikatorInnen über Gastprofessuren an den Hochschulen platzieren.

5. Thinktanks arbeiten für diejenigen, die sie bezahlen. Das sind im Regelfall einflussreiche ökonomische Kreise,

deren Bedürfnisse wenig mit den Mehrheitsbedürfnissen der Bevölkerung gemein haben. So ist zum Beispiel die

Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft 82 weniger ein der Aufklärung verpflichteter Intellektuellenkreis oder eine

Armenküche als vielmehr eine Kampagne mächtiger Industriearbeitgeberverbände mit dem Ziel, den solidarischen

Wohlfahrtsstaat abzubauen.

6. Parteien werden von Unternehmen, in den USA die ParlamentarierInnen direkt von LobbyistInnen finanziert – mit

entsprechenden Ergebnissen. Zwei Beispiele: Kongressabgeordnete, die für die Regulierung von Finanzderivaten

stimmten, erhielten in Summe 940.000 US-Dollar, während solche, die dagegen stimmten, 27 Millionen US-Dollar

erhielten. Die UnterstützerInnen der Kontrolle der US-Notenbank erhielten 40.000 US-Dollar, die GegnerInnen zehn

Millionen US-Dollar. Das Gesetz ging sang- und klanglos unter. 83

Die Demokratie ist infolge dieser Bedingungen und Entwicklungen in einer schweren Krise. Wenn wir die

ökonomischen Ungleichheiten, Lobbyismus und Medienkonzentration unangetastet lassen und »Demokratie« auf ein

Wahlkreuz für eine Partei alle vier oder fünf Jahre reduzieren, dann erodiert sie unweigerlich bis zur Auflösung. Um

lebendige Demokratie zu erreichen, muss es – neben der Entflechtung von Politik und Ökonomie und der Begrenzung

der Ungleichheit – zu einem umfassenden Ausbau demokratischer Beteiligungs- und Kontrollrechte kommen, möglichst

viele Menschen müssen auf möglichst vielen Ebenen mitdiskutieren, mitentscheiden und mitgestalten können – auch in

der Zeit zwischen den Parlamentswahlen und in demokratisierten Bereichen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens.

Wir sind Souverän!

Die erste Grundvoraussetzung der Renaissance der Demokratie ist die Entwicklung eines Souveränsbewusstseins.

Souverän kommt vom lateinischen »superanus« und bedeutet »über allem stehend«. Während im Absolutismus der

König der Souverän war und über allem stand, sollte es seit der Aufklärung und den bürgerlichen Revolutionen die

allgemeine Bevölkerung sein. Doch der theoretische Anspruch findet sich in der Realität noch nicht wieder. Denn die

einzigen Souveränsrechte, über welche die BürgerInnen verfügen, sind die Wahl von Parteien und das letzte Wort bei

gesamthaften Verfassungsänderungen. Für echte Souveränität ist das zu wenig. Diese müsste zumindest auch

beinhalten, dass der Souverän:

1. eine bestimmte Regierung wählen kann;

2. die Regierung abwählen kann;

3. das Parlament in einem Gesetzesvorhaben korrigieren kann;

4. selbst Gesetze zur Abstimmung bringen kann;

5. die Verfassung aus eigener Initiative ändern kann;

6. einen Konvent direkt wählen kann;

7. wichtige Grundversorgungsbetriebe selbst kontrollieren und steuern kann;

8. den Rahmen für die Verhandlung von völkerrechtlichen Verträgen abstecken und über die Verhandlungsergebnisse

abstimmen kann.

Das Souveränsbewusstsein ist jedoch so schwach ausgeprägt, dass die meisten von uns nicht einmal bemerken,

dass uns dieses Basiswerkzeug eines echten Souveräns noch fehlt. In den Schulen lernen wir das nicht. Ich frage bei

Vorträgen oft, welches Instrument denn das erste sein müsste, das ein »Souverän«, der »über allem steht«, in der Hand

haben müsste. Meist folgt breites und anhaltendes Schweigen. Mitunter wird »wählen« angeführt. Und nur selten

kommt schließlich schüchtern: »Ein Gesetz beschließen?«

Wenn der Souverän wirklich »über allem steht« und der einzige Zweck der Demokratie die Umsetzung seines

Willens – des Gemeinwillens einer größtmöglichen Mehrheit – ist, dann müsste der Souverän auch jederzeit aus

eigener Kraft ein Gesetz initiieren und verabschieden können! Derzeit geht das weder in den Mitgliedsstaaten der EU

noch in der EU selbst, weil das Monopol bei unserer Vertretung liegt: in den Nationalstaaten bei Regierung und

Parlament, in der EU bei Kommission, Rat und Parlament. Die Ergänzung der indirekten (»repräsentativen«) um die

direkte Demokratie wäre eine konsequente Umsetzung des Prinzips der Gewaltentrennung zwischen dem Volk und

seiner Vertretung. Klarer getrennte Gewalten würden ein spürbares Mehr an Demokratie und größeres Vertrauen in

diese Staatsform bringen.

Ausbau der Gewaltentrennung

Selten ist ein Grundprinzip unumstritten. Das demokratische Prinzip der Gewaltentrennung ist ein solcher Glücksfall.

So selbstverständlich uns heute jedoch die Aufteilung der Staatsgewalt auf Parlament, Regierung und Justiz und deren

gegenseitige Kontrolle sind, so wenig denken und fragen wir noch nach, welcher Grundgedanke eigentlich hinter der

Teilung der Gewalten steht – was will das Prinzip im Kern? Es geht darum, dass die Macht nicht zu sehr konzentriert

sein darf und nicht missbraucht werden kann. Keine Instanz sollte deshalb im Verhältnis zur anderen zu mächtig

werden, denn dann wäre es mit der Freiheit – und in diesem Fall ist es die kollektive Freiheit: die Demokratie –

vorbei. Da so viel auf dem Spiel steht, ist das Prinzip der Gewaltentrennung einer intensiveren Reflexion und

konsequenten Weiterentwicklung würdig.

Die erste Stufe der Weiterentwicklung haben wir bereits begonnen zu erörtern: die effizientere Aufteilung der

Macht zwischen Souverän und Vertretung. Warum wählt sich ein Souverän überhaupt eine Vertretung? Weil in den

Nationalstaaten so viele Menschen leben, dass sich nicht mehr alle an allen Abstimmungen sinnvoll beteiligen können.

Die Basisdemokratie findet ihre Grenze in der Zahl der Mitglieder der Demokratie. Hinter der Wahl von Regierung

und Parlament steht somit Arbeitsteilung; es geht nicht um die Schaffung eines neuen Organs per se, das dem Souverän

übergeordnet ist. Regierung und Parlament sind nur seine (repräsentative) Vertretung, deren ausschließlicher Zweck

darin besteht, den (relativen) Mehrheitswillen des Souveräns umzusetzen. Dass die Regierung dies auch tatsächlich tut,

ist jedoch durch nichts garantiert; und die Verlockung, die vorübergehend gepachtete Macht zu missbrauchen, ist umso

größer, je weniger Kontrollrechte der Souverän in der Hand hat und je mächtiger die Interessengruppen sind, welche

an der Regierung zerren: »Nichts ist gefährlicher als der Einfluss privater Interessengruppen auf die öffentlichen

Angelegenheiten«, schrieb Jean-Jacques Rousseau schon 1762. 84 Deshalb wäre es fatal, wenn dem souveränen

Auftraggeber bis zur nächsten Auftragsvergabe (Wahl) die Hände gebunden wären und er nur noch hilflos hoffen

könnte, dass die Regierung seinem Willen entspricht. Dann passiert genau das, was jetzt immer öfter der Fall ist:

Regierung und Parlament verwandeln sich in eine »Diktatur auf Zeit«, weil sie den drängendsten Lobby-Gruppen

nachgeben und von ihnen durchsetzt oder sogar besetzt sind. Der übergangene Souverän kann protestieren und

demonstrieren, aber was hilft das schon, wenn er keine Rechte hat? Leuchtet es nicht ein, dass der souveräne

Auftraggeber seinen Auftragnehmer jederzeit korrigieren können muss, wenn dieser nicht macht, was er will?

Rousseau meinte, der Souverän müsse »die Macht, die er in die Regierung gelegt hat, einschränken, abändern und

zurücknehmen können, wann immer es ihm beliebt«. 85

Dreistufige direkte Demokratie

Konkret bedeutet das zum einen, dass die souveräne Bevölkerung ein Gesetz, das ihr Missfallen erregt, mit

Stimmenmehrheit ablehnen kann. Und zum anderen, dass sie selbst ein Gesetz, das nicht im »Angebot« der Regierung

enthalten ist, auf Schiene bringen und beschließen kann. Für beide Rechte kann dasselbe Verfahren angewandt werden:

die von einer wachsenden Zahl von Organisationen geforderte dreistufige direkte Demokratie. 86

– Erste Stufe: Jede BürgerIn oder Gruppe von BürgerInnen kann für ein gewünschtes Gesetz

Unterstützungserklärungen sammeln.

– Zweite Stufe: Findet dieser Gesetzesvorschlag eine ausreichende Zahl von UnterstützerInnen, zum Beispiel ein

halbes Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung, wird ein bundesweites Volksbegehren eingeleitet.

– Dritte Stufe: Überwindet dieses Volksbegehren – die Sammlung von Unterschriften im ganzen Land in den

Wahllokalen – eine weitere und größere Hürde, wie zum Bespiel drei Prozent, kommt es zur verpflichtenden

Volksabstimmung, deren Ergebnis rechtlich bindendes Gesetz ist.

– Die »dritte Stufe« gibt es auf der Bundesebene derzeit nur in der Schweiz. Dort sind die Bürgerinnen und Bürger

der eigentliche Souverän. In Deutschland, Österreich, Italien und den meisten anderen Ländern hat das Parlament

das letzte Wort. Und es kann auch gegen den Willen der Bevölkerung Atomkraftwerke bauen, dem Kapital den

Fluchtweg in Steueroasen öffnen, Patente auf Lebewesen legalisieren, systemrelevante Banken retten oder an einem

völkerrechtswidrigen Angriffskrieg teilnehmen.

Direkte Demokratie ist weltweit auf dem Vormarsch: Gab es von 1951 bis 1960 weltweit erst 52 nationale

Volksabstimmungen, so waren es von 1991 bis 2000 schon 200, und im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends

werden es an die tausend gewesen sein. 87 In Deutschland wurde das Instrument des Volksentscheids in den letzten

fünfzehn Jahren in den meisten Bundesländern sowie auf kommunaler Ebene eingeführt, in Bayern gibt es seit 1995 die

Bürgerentscheide. In Südtirol erringt die Bürgerbewegung für direkte Demokratie einen Etappensieg nach dem

anderen. Die erste Form der direkten Demokratie wurde 2005 eingeführt, blieb allerdings weit hinter den

Vorstellungen der InitiatorInnen aus der Bevölkerung zurück. Diese initiierten deshalb 2009 eine erste

Volksabstimmung, um das Modell der BürgerInnenbewegung durchzusetzen. Dieses gewann auch mit 83,2 Prozent

Zustimmung. Doch die Regierung erklärte die Abstimmung, weil sich statt der von ihr selbst für nötig beschlossenen

vierzig Prozent (»Mindestquorum«) nur 38,2 Prozent der Bevölkerung beteiligt hatten, für nicht bindend. Dennoch

versprach die Regierung ein verbessertes Gesetz. Die Entwürfe dazu ließen jedoch keine echten Verbesserungen

erwarten. Deshalb organisierte die Bewegung Anfang 2014 eine weitere Volkstabstimmung, in der das Landesgesetz

mit 65,2 Prozent der Stimmen abgelehnt wurde. Für Anfang 2015 wird nun ein neues Landesgesetz erwartet, das den

Vorstellungen der BürgerInnen näher kommt. 88

Trotz dieser allgemeinen Tendenz zu mehr Demokratie halten sich gegen direkte Demokratie weitverbreitete und

teils gravierende Bedenken und Ängste. Die Steuern könnten erhöht werden, Rechtspopulisten könnten gegen

Minderheiten hetzen, die Todesstrafe könnte wiedereingeführt werden. Kern der Angst: Die allgemeine Bevölkerung

sei nicht so aufgeklärt und vernünftig wie eine gewählte Regierung. Beim Schweizer Votum zum Minarett-Verbot

scheinen sich diese Befürchtungen bestätigt zu haben. Der Verein Mehr Demokratie Deutschland hat ein ganzes Buch

zu den Befürchtungen geschrieben. 89 Ich will hier auf die gängigsten Vorbehalte gegen direkte Demokratie eingehen

und anhand des Schweizer Minarett-Votums die Grundrechte-Frage klären.

Mythos 1: Wir haben doch die repräsentative Demokratie.

Der Trick ist alt: Wenn jemand nach Arbeitspausen oder Feiertagen ruft, kommt manchmal das Gegenargument: »Aber

Arbeit ist doch nichts Schlechtes!« Genauso wenig, wie Pausen und Feiertage die Arbeit infrage stellen, sondern diese

vielmehr produktiver machen, will direkte Demokratie die repräsentative nicht ersetzen, sondern sinnvoll ergänzen.

Das Parlament darf der reguläre Gesetzgeber bleiben, doch wenn es etwas beschließt, das dem Willen der SouveränIn

zuwiderläuft, muss diese die Möglichkeit haben, seine Vertretung zu korrigieren. Oder wenn alle zum Parlament

kandidierenden Parteien in ihrem Wahlmenü etwas missen lassen, das der SouveränIn wichtig ist, soll diese selbst das

Gesetz initiieren können. Oder wenn das Wahlvolk zwar mehrheitlich eine bestimmte Regierung wählt, in einer

bestimmten Sache aber etwas anderes will, dann soll es beides kriegen können: die Lieblingsregierung und die

Gesetze seiner Wahl. Entscheidend ist: Das letzte Wort muss bei der SouveränIn bleiben.

Mythos 2: Das Volk kann die Regierung ja abwählen.

Im ungünstigsten Fall erst nach fünf Jahren. Regierungen machen unpopuläre Entscheidungen gerne gleich nach der

Wahl, um mit nahendem Wahltermin immer mehr Zuckerl zu streuen. Bis dahin ist vieles vergessen, und oft läge es

nicht einmal im Interesse der enttäuschten WählerInnen, eine Regierung, die vieles richtig macht, aufgrund einer

groben Fehlentscheidung nicht mehr zu wählen. Parlamentswahlen sind generell »ineffizient«, weil nur zwischen

dicken Bündeln aus Wahlversprechen gewählt werden kann, von denen keines verbindlich garantiert ist – in

Koalitionen kann die Schuld dafür zudem dem Partner zugeschoben werden. Direkte Demokratie erlaubt dem

Souverän, einzelne Sachfragen herauszugreifen und selbst zu entscheiden. Die Demokratie wird um vieles effizienter

und befriedigender, wenn das Volk zwischen den Wahlen nicht entmündigt und machtlos ist, sondern eigeninitiativ

mitgestalten kann.

Mythos 3: Das Volk ist zu ungebildet.

Grundsatzentscheidungen sind in der Regel ethische Entscheidungen, und hier sind alle Menschen ähnlich kompetent –

unabhängig vom Bildungsgrad. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die gesellschaftlichen Eliten über ein

überdurchschnittliches Maß an Herzensbildung verfügen, im Gegenteil: Macht korrumpiert den Charakter. Ein starker

Intellekt allein garantiert für nichts, außer, dass Verbrechen subtiler begangen werden. Österreich hat zwei Erfahrungen

mit Volksabstimmungen: das Atomkraftwerk Zwentendorf und der EU-Beitritt. Dort, wo Regierung und Volk

unterschiedlicher Meinung waren, in der Frage der Kernkraft, war der Souverän klüger – obwohl damals eines der

aggressivsten Argumente war, dass die Bevölkerung die komplizierte Atomwissenschaft »nicht verstehe« und solche

»Sachfragen« doch von den Experten geklärt werden müssten. Das Problem der korrupten Expertokratie hat sich in

den letzten Jahren verschärft. Minister und Abgeordnete hören lieber auf LobbyistInnen als auf integre ExpertInnen.

Warum zogen dreizehn EU-Regierungen in den Irakkrieg? Das »Wissen«-Argument sticht nicht.

Mythos 4: Die Entscheidungen sind zu komplex.

Dieses Argument wurde beim Vertrag von Lissabon erfunden. Es waren jedoch erstens die Regierungen, die – anstatt

eine kurze und verständliche Verfassung vorzulegen, die USA kommen bis heute mit einem Fünfzehn-Seiten-Text aus –

ganz bewusst ein 500-Seiten-Monster schufen, um mit dem »Komplexität«-Argument die Souveräne von der

Mitbestimmung auszuschließen. Zweitens zeigten Befragungen, dass auch die meisten VolksvertreterInnen in den

nationalen Parlamenten nicht die leiseste Ahnung vom Inhalt des Lissabon-Vertrages hatten (und haben) und deshalb

bei der Abstimmung um nichts qualifizierter waren als die Bevölkerung. 90 Das Beispiel Frankreich lehrt vielmehr,

dass gerade eine Volksabstimmung zu hohem Informationsstand in der Bevölkerung führt: Bücher über den EUVerfassungsvertrag

waren vor der Volksabstimmung monatelang auf den Bestsellerlisten, mehr als eine Million

Exemplare wurden verkauft. In zahllosen öffentlichen Diskussionen wurden bis lange nach Mitternacht die einzelnen

Artikel leidenschaftlich diskutiert. Wenn das Volk mitbestimmen darf, ist es gar nicht so politikverdrossen, wie ihm

von »Diktatoren auf Zeit« gerne unterstellt wird.

Das gewichtigste Argument ist: Parlamentswahlen – die Wahl von Parteien – sind die komplexeste Entscheidung

überhaupt, hier müssen alle Fragen gleichzeitig in einer einzigen Wahl entschieden werden, und ausgerechnet diese

wird den WählerInnen »direkt« zugemutet. Wenn das Volk angeblich zu dumm ist, kluge Entscheidungen zu treffen,

warum sollte es dann diese Quadratur des Kreises schaffen?

Mythos 5: Dann kommen die Hetz-Populisten.

Das ist keine Besonderheit der direkten Demokratie. Hetz-Populisten kandidieren auch bei den Parlamentswahlen,

mitunter so erfolgreich, dass sie in die Regierung kommen. Wäre das nicht ein schlagendes Argument gegen Parteien

und Parlamente? Um des Hetz-Populismus Herr zu werden, bedarf es anderer Wege als der Ablehnung direkter

Demokratie. Ein heißer Tipp: Wenn Regierung und Parlament wirklich etwas gegen das Erstarken des

Rechtsextremismus unternehmen wollen, sollten sie endlich etwas gegen die wachsende Ungleichheit und soziale

Spaltung tun, nicht direkte Demokratie verhindern.

Mythos 6: The Sun , Bild und Kronen Zeitung würden zur De-facto-Regierung.

Ein weiteres Totschlagargument, besonders in Österreich. Dieses ist jedoch kein Argument gegen direkte Demokratie

(weltweit), sondern für ein österreichisches Mediengesetz, das Machtkonzentration verhindert. Davon abgesehen: Hat

die Kronen Zeitung etwa keinen entscheidenden Einfluss auf die repräsentative Demokratie? Darüber wurden Filme

gedreht. 91 Auch hier gilt: Nicht die repräsentative Demokratie gehört deshalb beseitigt, sondern die Macht der

Kronen Zeitung .

Mythos 7: Dann kommt ja die Todesstrafe.

Das reflexhafteste Argument gegen direkte Demokratie. Und prinzipiell korrekt: Theoretisch könnte eine Mehrheit für

die Todesstrafe stimmen. Dafür müssen Vorkehrungen getroffen werden. Allerdings gilt das unterschiedslos für die

indirekte Demokratie. Denn wer bewahrt uns davor, dass eine gewählte Regierung die Todesstrafe oder Folter

wiedereinführt? Guantánamo ist kein Ergebnis einer Volksabstimmung! Die Überwachung der Bevölkerung erst recht

nicht. Die jüngsten Einschränkungen der Bürgerrechte und die Auslandsmilitäreinsätze bis hin zu Kriegen gehen von

Parlamenten aus, nicht von den BürgerInnen! Wenn, dann bewahren uns die Verfassung oder die Europäische

Menschenrechtskonvention EMRK vor Menschenrechtsverletzungen. Die logische Konsequenz ist, dass diese letzten

Hüter der Grundrechte auch für die direkte Demokratie gelten müssen (gleich wie für die indirekte) – was soziale

Bewegungen, die für direkte Demokratie eintreten, klarerweise auch fordern.

Mein Argument dazu ist: Die Demokratie, egal ob direkte oder indirekte, ist nur ein Mittel. Die Gleichheit aller

Menschen, ihr gleicher Wert – die Würde – ist der Zweck. Aus dem gleichen Wert aller Menschen folgen die gleichen

Grundrechte aller, und eines davon ist das gleiche Mitspracherecht aller. Und das Mittel sollte verständlicherweise

niemals den Zweck abschaffen dürfen. Alle zeitgemäßen Initiativen für direkte Demokratie fordern deshalb, dass

weder schon erstrittene Grund-, Menschen- und Minderheitenrechte durch direkte Demokratie infrage gestellt werden

dürfen (genauso wenig wie durch indirekte) noch die Demokratie selbst: Eine Volksabstimmung über die Auflösung

des Parlaments und die Inthronisierung eines Königs ist theoretisch denkbar, sollte aber genauso wenig zulässig sein

wie die Einsetzung eines Diktators durch das Parlament. Minderheiten dürfen weder vom Parlament unterdrückt

werden noch vom Volk. Entweder die Grundrechte gelten für alle, oder sie gelten nicht oder nur für einige, dann ist es

aber keine Demokratie mehr, weil die Menschen nicht mehr gleich sind – womit sich jedes demokratische Verfahren

erübrigt. Hier muss die Verfassung die Grundrechte schützen.

Wir sind beim Schweizer Minarett-Problem: In der Schweiz gibt es die direkte Demokratie seit 1848, der Beitritt

zur Europäischen Menschenrechtskonvention, gegen die das Minarett-Verbot zweifach verstößt (gegen das

Diskriminierungsverbot und gegen die Religionsfreiheit), erfolgte erst 1974. Die SchweizerInnen sollten also klären,

ob ihnen der Verbleib in der EMRK wichtiger ist oder die Beibehaltung des fragwürdigen Rechts, via direkte

Demokratie auch Menschen- oder Minderheitenrechte zu beschneiden. Ich bin mir sicher, dass diese Entscheidung

zugunsten der Menschenrechte ausgehen würde.

Die Schweiz hat die Todesstrafe übrigens per direkter Demokratie abgeschafft. In einer Gesamtschau gibt es

zahllose Beispiele dafür, dass der Souverän, wo er selbst entscheiden durfte, »klüger« war als die Regierung. Die

weltbeste Bahn in der Schweiz, der Atomausstieg Österreichs und Italiens, die Verhinderung der Privatisierung der

Stadtwerke von Leipzig, die Entscheidung des Kantons Zürich, reichen Ausländern die Steuerprivilegien zu streichen,

die Verkürzung der Wehrpflicht in der Schweiz und der freiwillige Zivilersatzdienst: alles Verdienste direkter

Demokratie. Deshalb sind die Menschen in der Schweiz mit dem politischen System zufriedener als in Deutschland

oder Österreich, wo 82 Prozent der Ansicht sind, »dass die Regierung auf die Interessen des Volkes keine Rücksicht

nimmt«. Nur fünf Prozent glauben, durch Wahlen »in starkem Maße« mitbestimmen zu können. Die Hälfte der

Deutschen meint, über Wahlen »gar nicht« mitbestimmen zu können. 92 In Zeiten, in denen die Regierungen immer

mehr von den ökonomischen Eliten vereinnahmt werden (»Postdemokratie« 93 ), ist direkte Demokratie ein Gebot der

Stunde. Dass der Souverän dies will, sollte eigentlich Grund genug sein: 75 Prozent der CSU/CDU-Getreuen sind für

direkte Demokratie und 81 Prozent der SPD-Fans. Im absolutistischen Frankreich sagte Ludwig XIV.: »Der Staat bin

ich!« Heute agieren Regierungen und Parlamente nach dem Motto: »Der Souverän sind wir.« Im EU-Lissabon-Vertrag

maßen sich die VolksvertreterInnen, die diesen verfassten und beschlossen, an, zu entscheiden, worüber die

SouveränIn abstimmen darf und worüber nicht. Wenn Regierung und Parlament hinkünftig wissen, dass das letzte Wort

bei der SouveränIn liegt, dann werden sie diese ernster nehmen. Und die souveränen BürgerInnen können ihre

Politikverdrossenheit und Ohnmacht in demokratische Initiative umwandeln. »Direkte Demokratie heißt, die

Zuschauerhaltung zu verlassen«, formuliert es der Mitbegründer von Mehr Demokratie e.V. Gerald Häfner. 94

Trennung von verfassunggebender und verfasster Gewalt

Der nächste Schritt ist die Trennung der Gewalt, welche die Verfassung schreibt, von derjenigen, die durch die

Verfassung eingesetzt wird. In der Politikwissenschaft versucht man die »verfassunggebende Gewalt« (Souverän) von

der »verfassten Gewalt« (Parlament, Regierung) zu trennen. Der Gedanke dahinter leuchtet ein: Wenn die

demokratischen Institutionen die Spielregeln des Regierens selbst machen dürfen, dann werden sie dem Volk möglichst

wenige Rechte einräumen, um selbst die meiste Macht zu behalten. Schreibt hingegen das souveräne Volk die

Verfassung, dann wird es sich sehr wahrscheinlich das letzte Wort sowie umfassende Mitbestimmungs- und

Kontrollrechte reservieren.

Dieser Punkt ist besonders vor dem Hintergrund der Entwicklung der Europäischen Union relevant. Bisher wurden

die Grundlagenverträge stets von den Regierungen geschrieben. Die Bevölkerung war vom Entwicklungsprozess der

neuen Verträge ausgeschlossen und durfte auch über das Endergebnis nur selten abstimmen. Diese Praxis wird in dem

Maße problematischer, in dem die EU immer mehr Kompetenzen übertragen bekommt und staatsähnlichen Charakter

annimmt. Spätestens aber bei der sogenannten »EU-Verfassung« hätten die Regierungen die Souveräne ans Ruder

lassen müssen. Denn der Titel »Verfassung« weist auf die Gründung eines souveränen Staates hin, und die souveräne

Macht in einem Staat muss in den Händen der Bevölkerung liegen, und nicht bei der Regierung oder dem Parlament.

Tatsächlich war der »Verfassungsvertrag« sogar noch mehr als eine Verfassung: Er war Verfassung plus politische

Verträge in einem monströsen 500-Seiten-Konvolut zusammengepackt: ein abstoßendes Manöver gegen die

Demokratie.

Nachdem zwei von vier abstimmenden Souveränen das Vertragsmonster abgelehnt hatten, beschlossen die

Regierungen, dem Text die »Verfassungsschminke« abzunehmen (»Gesetze«, Außenminister, Flagge, Hymne), um ihn

als »gewöhnlichen« Vertrag durchdrücken zu können. Entlarvenderweise betonten sie gleichzeitig, dass 95 Prozent des

Inhalts »gerettet« worden seien 95 ; so wurde ein nahezu identischer Text ganz ohne Mitbestimmung der Souveräne

diesen aufgezwungen. Ein einziger Souverän, der irische, stimmte ab, weil die lokale Verfassung das vorschreibt.

Auch die Iren und Irinnen sagten nein, als dritter Souverän. Da sie aus der Sicht ihrer VertreterInnen »falsch«

abgestimmt hatten, mussten sie jedoch »wiederholen« – erneut ein schwerer Missbrauch der direkten Demokratie.

Dierekte Demokratie sollte ein Instrument des Souveräns sein, um die Regierung zu korrigieren, und nicht eines der

Regierung, um den Souverän zu korrigieren!

Wie könnte ein EU-Vertrag auf demokratische Weise zustande kommen? Siebzehn europäische Attac-Organisationen

haben hierzu einen konkreten Vorschlag unterbreitet: Damit die Menschen Vertrauen in die EU fassen und sich mit

dieser identifizieren können, müssen sie am Bau des »Hauses Europa« beteiligt werden. Wenn jemand anderer das

Haus baut und die Hausordnung festlegt, wird dieses Heim für viele nicht so gemütlich sein, wie wenn die

BewohnerInnen das Haus selbst gestalten und festlegen dürfen, welche Regeln darin gelten. Der Vorschlag von Attac

lautet: Aus der Mitte der Bevölkerung soll eine demokratische Versammlung gewählt werden, die sich aus

VertreterInnen aller Mitgliedsstaaten und mindestens fünfzig Prozent Frauen zusammensetzt und den neuen

Grundlagenvertrag, heiße er nun Verfassung oder nicht, schreibt. 96

Üblicherweise wird eine solche Versammlung Konvent genannt. Der Verfassungsvertrag war auch von einem

Konvent geschrieben worden, jedoch wurde dieser Konvent nicht vom Souverän eingesetzt, sondern von den

Regierungen. Der Konvent hatte auch keine demokratische Geschäftsordnung, denn die Letztentscheidung lag beim

dreizehnköpfigen Präsidium und nicht beim Plenum. Das Präsidium »overrulte« auch das Plenum, als sich dieses für

Volksabstimmungen in allen Mitgliedsstaaten über den Verfassungsvertrag ausgesprochen hatte: Der Konvent war eine

Farce. Der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker meinte: »Ich habe noch keine dunklere

Dunkelkammer erlebt als den Konvent.« 97 Kein Wunder, dass das Endprodukt dieses Finsterzimmers von drei der

fünf befragten Souveräne abgelehnt wurde!

Im Vorschlag von Attac sollten allein die Souveräne über das Ergebnis des demokratischen Konvents entscheiden.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen einen Vertrag annehmen, der a) von eigens dafür direkt gewählten

Vertrauenspersonen geschrieben wurde, die b) während der Textredaktion in regem Austausch mit den Menschen

stehen, und über den c) ausschließlich die Souveräne entscheiden, ist sehr hoch. Ich bin davon überzeugt, dass er in

allen Mitgliedsländern angenommen würde. Die zentrale politische Konfliktlinie verläuft nämlich nicht zwischen

»Nationalstaaten« oder den vielfältigen europäischen »Kulturen«, sondern zwischen den gesellschaftlichen Eliten und

der Bevölkerungsmehrheit innerhalb aller Staaten.

Dass das Endprodukt eines wirklich demokratischen Konvents wahrscheinlich angenommen wird, lässt sich

andernorts verifizieren. Im Kanton Zürich fand zwischen 1999 und 2005 der soeben beschriebene Prozess statt:

Direktwahl eines Konvents zur Neuschreibung der Verfassung, intensiver Austausch mit der Bevölkerung, Abstimmung

durch den Souverän, Annahme mit klarer Mehrheit von 64,8 Prozent. 98

Ein demokratisch entstandener Grundlagenvertrag würde nicht nur das schmerzlich vermisste Vertrauen der

BürgerInnen in die EU stärken, er würde das Projekt der europäischen Integration auch auf einen anderen inhaltlichen

Kurs bringen. Meine Wette ist: Anstelle des Vorrangs der Wirtschaftsfreiheiten, des Standortwettbewerbs, der

bedingungslosen Kapitalverkehrsfreiheit, des schrankenlosen Eigentumsrechts, des Aufrüstungsimperativs und der

mangelnden Gewaltenteilung würde eine demokratischere, nachhaltigere und friedlichere EU wachsen. Die

BürgerInnen würden vieles von dem, was in den jetzigen Verträgen steht, nie und nimmer hineinschreiben. Dafür

würden die Grundrechte an höchster Stelle stehen und einen gedeihlichen Rahmen für den inneren und äußeren Frieden

und nicht zuletzt für eine Gemeinwohl-Ökonomie bilden.

Wirtschaftskonvent

Konvente können nicht nur die Neuschreibung der Verfassung zum Ziel haben, sondern auch einzelne Kernelemente neu

fassen wie die Grundrechtecharta oder eben den Werte- und Zielrahmen für das Wirtschaften. Wie ich oben

argumentiert habe, weicht der gegenwärtige Werte- und Zielrahmen, die Systemspielregeln »Gewinnstreben« und

»Konkurrenz«, die beide keine Verfassungswerte sind, nicht nur geringfügig von unseren humanen Grundwerten ab, er

ist ihnen diametral entgegengesetzt. Die realverfasste Wirtschaft verletzt den Geist der Verfassungen. Laut Grundgesetz

muss »der Gebrauch von Eigentum zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen«, laut der Verfassung Bayerns »dient

die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dem Gemeinwohl«. Davon ist in der Wirtschaft wenig zu erkennen; die

Verfassungswerte Menschenwürde, Solidarität und Demokratie werden in der Wirtschaft kaum oder gar nicht

eingefordert. Gewinnstreben und Konkurrenz sind nicht die geeigneten Umsetzungsregeln für diese Grundwerte.

Der vorgeschlagene demokratische Wirtschaftskonvent würde die Verfassungsziele und -werte in Spielregeln

übersetzen, die durch effektive Anreize zur Umsetzung dieser Ziele und Werte führen. Die Vorschläge sind:

Gemeinwohlstreben als Ziel der Wirtschaftsakteure definieren, Messung der Zielerreichung mit einer Gemeinwohl-

Bilanz, Messung des volkswirtschaftlichen Erfolgs mit dem Gemeinwohl-Produkt, Förderung von Kooperation

zwischen den Unternehmen, Begrenzung und Bedingung des Eigentumsrechts.

Zehn bis fünfzehn fundamentale Spielregeln würden reichen. Der Wirtschaftsverfassungsteil hätte vermutlich auf

zwei bis drei Seiten Platz. Erstmals würden in einem demokratischen Verfahren die Spielregeln für die Wirtschaft

festgelegt. Diesen Luxus könnten wir uns zum hundertsten Geburtstag des Endes der Monarchien in Deutschland und

Österreich – 2018/19 – endlich gönnen.

Bildungskonvent

Ein weiterer Konvent könnte zum Thema Bildung eingerichtet werden. Im Bildungswesen werden die Weichen dafür

gestellt, welche Menschen die Gesellschaft von morgen formen werden: Haben sie gelernt, einander zuzuhören, zu

kooperieren und die Meinung des anderen zu achten? Oder haben sie gelernt, besser sein zu wollen als die anderen,

die Ellbogen auszufahren und für den persönlichen »Erfolg« alles andere außer Acht zu lassen? Lernen sie, was es

heißt, Demokratie zu gestalten (»zoon politikon«), oder verstehen sie sich nur als »Privatpersonen« (»idiotes«)?

Erfahren sie, was die Welt im Innersten zusammenhält, oder werden sie mit zusammenhanglosem Detailwissen

vollgestopft?

Es gibt wohl kaum einen Sektor, in dem Frustration auf allen Seiten so ausgeprägt ist wie im Bildungssektor:

SchülerInnen fühlen sich bevormundet und werden aggressiv; LehrerInnen fühlen sich ebenfalls überfordert und als

Sündenböcke an den Pranger gestellt; Universitäten werden verschult und finanziell ausgehungert; sie müssen sich

zunehmend wie Unternehmen verhalten und Drittmittel aus der profitorientierten Privatwirtschaft lukrieren; externe

Evaluierungsmethoden schaffen ein Klima der Überwachung und Kontrolle. Kinder und junge Erwachsene werden auf

die Bedürfnisse des Marktes und der globalisierten Wirtschaft abgestimmt, anstatt sich zu freien und kritischen

Menschen entfalten zu können.

Entspricht diese Entwicklung dem Ideal freier Bildung? Warum dürfen SchülerInnen und Eltern die Lehrpläne nicht

mitbestimmen? Warum macht das die Regierung allein? Gehen die Lerninhalte nicht alle an? Sind nicht alle

Bildungsbetroffenen einer Gesellschaft in Summe intelligenter als eine Regierung, an der die Interessengruppen

zerren?

Ein Ausweg wäre ein demokratischer Bildungskonvent, in den alle Betroffenen des Bildungssektors –

SchülerInnen, Studierende, Lehrende, Eltern – Personen ihres Vertrauens wählen, welche die Ziele und zentralen

Inhalte für das Bildungssystem sowie die Mitspracherechte der Betroffenen festlegen. Ich gehe jede Wette ein, dass

andere Inhalte und Unterrichtsfächer gewählt würden, als der 2009 amtierende ÖVP-Vorsitzende und Vizekanzler Josef

Pröll in seiner programmatischen Grundsatzrede »Projekt Österreich« ausgerechnet am Höhepunkt der Finanzkrise

vorschlug: »Financial Education« solle zum »Bestandteil jeder schulischen Ausbildung« werden. 99 Nachdem die

Banken zu globalen Kasino-Playern geworden sind, sollen jetzt alle Menschen lernen, wie man sich an den

Spieltischen am erfolgreichsten betätigt. Dem Fass den Boden schlug der Umstand aus, dass der einzige Vertreter

Österreichs in der gleichnamigen Arbeitsgruppe der EU-Kommission (nämlich zu »Financial Education«) der

Geschäftsführer der Hedge-Fonds-Firma Superfund ist, die ihren KundInnen Jahresfinanzrenditen von zwanzig bis

siebzig Prozent in Aussicht stellt. 100 (Die beiden deutschen Mitglieder kommen vom Banken- und vom

Versicherungsverband. 101 ) Ich bin mir sicher, dass eine repräsentative Vertretung von LehrerInnen, Eltern und

SchülerInnen niemals auf die Idee kommen würde, Financial Education zum verpflichtenden Unterrichtsgegenstand zu

machen und dabei Hedge-Fonds-Manager zu Rate zu ziehen; sie würden andere Prioritäten setzen als eine Regierung,

die immer mehr mit den finanziellen Eliten verschmilzt und deren Profitinteressen vertritt.

Daseinsvorsorgekonvent

Ein dritter Konvent könnte den Bereich der wirtschaftlichen Grundversorgung, auch »Daseinsvorsorge« genannt,

definieren: Welche Sektoren der Wirtschaft sind von so grundlegender Bedeutung (und in vielen Fällen am besten als

einheitlicher Betrieb zu organisieren), dass sie gänzlich unter der Kontrolle des Souveräns stehen sollten? Laut

Umfragen steht die Bevölkerung mit großer Mehrheit hinter einer öffentlichen Post, Bahn, Rentenversicherung und

Gesundheitsversorgung sowie öffentlichen Kindergärten und Universitäten. Diese Grundversorgungsbetriebe könnten

via Daseinsvorsorgekonvent zu »demokratischen Allmenden« weiterentwickelt werden. (Wo die Bevölkerung

abstimmen durfte, sprach sie sich für die Beibehaltung der öffentlichen Kontrolle über die Basis-Infrastruktur aus.)

Medienkonvent

Ein weiterer Konvent könnte zum Thema Medien arbeiten, um die mediale, ökonomische und politische Macht zu

entflechten und eine demokratischere Medienlandschaft zu kultivieren. Vielfalt und Dekonzentration von Macht könnten

auch hier durch negative Rückkoppelungen erzielt werden:

– kein Unternehmen darf Eigentum an mehr als einem Medienunternehmen besitzen;

– kein Medium darf zu mehr als 0,5 Prozent von einem Inserenten abhängig sein;

– neue Medien dürfen nur von mindestens fünf akkreditierten JournalistInnen und mindestens zehn gleich großen

EigentümerInnen gegründet werden.

Keine Regierung würde so eine Umverteilung der Medien- und Eigentumsmacht auch nur andenken. Der Einzige,

der diese Rettungsmaßnahme für die Demokratie in Angriff nehmen und durchsetzen kann, ist der demokratische

Souverän. Dafür braucht es jedoch direkte Demokratie.

Demokratiekonvent

Der wichtigste aller Konvente hätte deshalb die Aufgabe, die Spielregeln für die Demokratie neu zu schreiben. Seit

der Krise 2008 und der (Nicht-)Reaktion der Regierungen darauf wird immer mehr Menschen klar, dass das

gegenwärtige Demokratie-Modell eine Sackgasse für die Demokratie bedeutet. Viele zivilgesellschaftliche Initiativen,

von Mehr Demokratie e.V. über Bildungsproteste und Occupy-Bewegung bis zu Attac sowie Öko-Dörfer und

BürgerInnen-Kommunen, machen sich daher Gedanken über die Weiterentwicklung der Demokratie oder »democracia

real«, wie es die spanische »Indignados«-Bewegung formuliert. Meines Erachtens ist es eine der wichtigsten

Aufgaben der nächsten Jahre, dass alle Kräfte, die mehr Mitbestimmung wollen, gemeinsam ein innovatives und

zeitgemäßes Demokratie-Modell ausarbeiten und dieses dann zur gemeinsamen Forderung eines breiten

zivilgesellschaftlichen Bündnisses, mehr noch: einer historischen Bürgerrechtsbewegung machen.

Der Weg zur Umsetzung kann eine Volksinitiative sein, die Forderung nach einem Demokratiekonvent oder, in

diesem Fall, sogar eine Partei. Ich persönlich tendiere zur Ansicht, dass Parteien eine Sackgasse auf dem Weg zu

»echter« Demokratie sind, weil sie das Fraktionale betonen und nicht das Gemeinsame. Was eine Fraktion vorschlägt,

lehnen die anderen oft aus Prinzip – und nicht aus inhaltlichen Gründen – ab. Die Parteiendemokratie fördert die

Konkurrenz, doch die Demokratie sollte auf kooperativen Verfahren basieren. Ich kann hier noch keine ausgereifte

Lösung anbieten, aber ich ahne voraus, dass bald Wege und Prozesse gefunden werden, wie ein Gemeinwesen zu

befriedigenden und nachhaltigen Entscheidungen finden kann, ohne sich dabei in Fraktionen zu zersplittern und

aufzureiben.

Die Demokratie-Partei, falls es sie jemals geben wird, hätte ein einziges Ziel: das neue Demokratie-Modell in die

Welt zu bringen. Sie würde keine – auch noch so mehrheitsfähigen – »Inhalte« in ihr Programm schreiben, weil diese

zu sehr von der Neuschreibung der Entscheidungsregeln ablenken würden; außerdem können mehrheitsfähige Inhalte

nach der Umsetzung der neuen Regeln problemlos von den BürgerInnen selbst zu Gesetzen gemacht werden – auch

ohne Parteien.

Die Suche nach einem besseren Demokratie-Modell hat begonnen. Ich glaube, es ist das wichtigste politische

Projekt der nächsten Jahre.

Drei-Säulen-Demokratie

In Summe würden die vorgeschlagenen Maßnahmen das gegenwärtige eindimensionale Demokratie-Modell (nur

repräsentative Demokratie) zu einer dreidimensionalen Demokratie weiterentwickeln: indirekte (repräsentative),

direkte (Konvente und Volksabstimmungen) und partizipative Demokratie (Mitbestimmung in der Wirtschaft und

Daseinsvorsorge). Schlussendlich handelt es sich um eine bessere Arbeitsteilung zwischen den TrägerInnen der

politischen Macht und jenen, an die sie diese nur noch teilweise delegieren: zwischen der SouveränIn und ihrer

Vertretung. Auch das wäre noch keine »echte Demokratie«, lieber Jean-Jacques Rousseau, aber immerhin der nächste

Schritt dorthin.

 

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