dazu Christian Felber:
https://www.gemeinwohl.coop/nachrichten/demokratisches-geld
Mehr Mut zur Demokratie:
https://ethik-heute.org/mehr-mut-zur-demokratie/
aus : Schöne neue Welt :
https://www.snw2048.de/blog/2018/9/21/wie-die-gemeinwohl-konomie-bis-2048-wirklichkeit-wird
dazu GWÖ Bayern, workshop 2017:
https://bayern.ecogood.org/Veranstaltung/direkte-demokratie-konkret-umsetzen/
. . .
und
Christian Felber / aus GWÖ Buch :
6. Weiterentwicklung der Demokratie
» Echte Demokratie ist doch keine hohle Phrase.« Albert Einstein
Obwohl wir formal in Demokratien leben, empfinden immer weniger Menschen, dass sie das gesellschaftliche Leben
tatsächlich mitbestimmen können. Immer häufiger treffen Regierungen Entscheidungen, welche den Bedürfnissen und
Interessen der Mehrheit der Bevölkerung zuwiderlaufen: die Deregulierung der Finanzmärkte, die Nichtzerteilung
systemrelevanter Banken, die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen wie Trinkwasser- und Energieversorger,
Bahn, Post oder Banken; das Lostreten globaler Standortkonkurrenz durch »Freihandelsabkommen«, die
Liberalisierung des Kapitalverkehrs bis in die letzte Steueroase; das Zulassen der Einkommensungleichheit bis zum
350.000-Fachen; die Durchsetzung von Gentechnik in der Landwirtschaft; die Legalisierung von Patenten auf
Lebewesen; der Euratom-Vertrag; die Aufrüstungsverpflichtung im EU-Lissabon-Vertrag; die brutale Repression der
DemonstrantInnen beim Klimagipfel in Kopenhagen, Folter in Guantánamo, der völkerrechtswidrige Angriffskrieg
gegen den Irak und seit 2008 die unsägliche Bankenrettungspolitik zugunsten systemrelevanter Großkonzerne: Bei
direktdemokratischen Verfahren wäre in den meisten Ländern vermutlich keine dieser Entscheidungen mehrheitsfähig.
Trotzdem wurden sie formal von demokratisch legitimierten Regierungen und Parlamenten getroffen. Die Ursachen für
die wachsende Distanz zwischen den BürgerInnen und ihren VertreterInnen, in der Politikwissenschaft auch »Krise der
Repräsentation« genannt, sind mehrere:
1. Wer nur alle vier oder fünf Jahre einmal ein Parteiprogramm wählen darf, hat so gut wie nichts in der Hand. Denn
die Wahlversprechen sind genauso inflationär wie unverbindlich. Wenn die Regierung ihre Versprechen nicht einlöst,
sind wir WählerInnen weitgehend machtlos. Wir müssen bis zur neuen Wahl warten und könnten dann eine Regierung
dafür »abstrafen«, dass sie ein uns besonders wichtiges Versprechen gebrochen hat. Bloß wie? Müssen wir deswegen
die Partei wechseln? Gibt es überhaupt eine Partei, deren Programm mir in Summe besser gefällt? Was, wenn gar
keine kandidierende Partei die für mich wichtigsten Inhalte im Programm hat? Was, wenn die »bestrafte« Partei gar
nicht versteht, wofür sie bestraft wurde, weil es nicht möglich ist, sie für eine einzelne Sachentscheidung zu bestrafen,
sondern nur für die gesamte Legislaturperiode?
2. Die ökonomischen Eliten verschmelzen immer mehr mit den politischen Eliten, oft wechseln Spitzenmanager oder
Großunternehmer direkt in die Regierung und Minister und Kanzler zurück in den Lobbyismus. 80 Eine kleine
Auswahl: Theo Waigel zur Texas Pacific Group ; Rudolf Scharping zu Cerberus ; der ehemalige Chef der
Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerstner, zu Fortress ; Ron Sommer (unter dem die Deutsche Telekom an die Börse
ging) zu Blackstone (alles Private-Equity-Fonds), Gerhard Schröder zu Gazprom , Wolfgang Schüssel zu RWE ,
Brigitte Ederer zu Siemens , Alfred Gusenbauer zur Strabag und Karl-Heinz Grasser zu diversen Finanzfonds.
»Umgekehrt« arbeiten in Deutschland 300 »Leihbeamte« von Konzernen direkt in den höchsten Etagen der Verwaltung
mit. 81 Die mächtigsten Banker schreiben die Bankenrettungsgesetze, und die Parlamente unterschreiben sie. Das
Problem dieser sozialen Intimität zwischen Politik und Wirtschaft wird umso brennender, je reicher und mächtiger die
ökonomischen Eliten werden. Das zeigt, dass ökonomische Eliten an sich das Problem sind – und erhärtet die
Forderung nach Begrenzung der Ungleichheit. Materielle Eliten stehen im Widerspruch zu einer demokratischen
Gesellschaft, in der alle Menschen gleiche Rechte, Chancen und Mitbestimmungsmöglichkeiten vorfinden sollten.
3. Diese Eliten haben auch einen überproportionalen Einfluss auf die maßgeblichen Medien: durch persönliche
Kontakte mit leitenden JournalistInnen, die diesen Kontakt suchen und pflegen, um sich wertvolle Informationsquellen
zu sichern; durch das Teilen von Werten mit den medialen Eliten (die Mächtigen sind, wenn es um Machterhalt geht,
hochgradig kooperativ); durch Werbeeinschaltungen, von denen die Medien ökonomisch abhängig sind und an die sie
die redaktionelle Linie anpassen; und in Form direkter Kontrolle über Eigentum: Viele Zeitungen und TV-Sender
gehören heute Banken, Finanzinvestoren oder Rüstungskonzernen: Das darf nicht sein.
4. Auch der wissenschaftliche Mainstream folgt mitunter der Meinung der Mächtigen. Zwar bieten »freie«
Universitäten immer auch Raum für alternative Ansätze, doch der »Hauptstrom« fließt entlang der Weltbilder der
Mächtigen, weil a) viele Intellektuelle aus gutem Hause kommen und Partei für die eigene »Klasse« ergreifen; b) die
Universitäten im Zuge der Liberalisierung immer mehr auf Drittmittel aus der Wirtschaft angewiesen sind; und c)
private Interessengruppen den öffentlichen Geldmangel nicht nur verursachen, sondern auch ausnutzen, indem sie ihre
ideologischen MultiplikatorInnen über Gastprofessuren an den Hochschulen platzieren.
5. Thinktanks arbeiten für diejenigen, die sie bezahlen. Das sind im Regelfall einflussreiche ökonomische Kreise,
deren Bedürfnisse wenig mit den Mehrheitsbedürfnissen der Bevölkerung gemein haben. So ist zum Beispiel die
Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft 82 weniger ein der Aufklärung verpflichteter Intellektuellenkreis oder eine
Armenküche als vielmehr eine Kampagne mächtiger Industriearbeitgeberverbände mit dem Ziel, den solidarischen
Wohlfahrtsstaat abzubauen.
6. Parteien werden von Unternehmen, in den USA die ParlamentarierInnen direkt von LobbyistInnen finanziert – mit
entsprechenden Ergebnissen. Zwei Beispiele: Kongressabgeordnete, die für die Regulierung von Finanzderivaten
stimmten, erhielten in Summe 940.000 US-Dollar, während solche, die dagegen stimmten, 27 Millionen US-Dollar
erhielten. Die UnterstützerInnen der Kontrolle der US-Notenbank erhielten 40.000 US-Dollar, die GegnerInnen zehn
Millionen US-Dollar. Das Gesetz ging sang- und klanglos unter. 83
Die Demokratie ist infolge dieser Bedingungen und Entwicklungen in einer schweren Krise. Wenn wir die
ökonomischen Ungleichheiten, Lobbyismus und Medienkonzentration unangetastet lassen und »Demokratie« auf ein
Wahlkreuz für eine Partei alle vier oder fünf Jahre reduzieren, dann erodiert sie unweigerlich bis zur Auflösung. Um
lebendige Demokratie zu erreichen, muss es – neben der Entflechtung von Politik und Ökonomie und der Begrenzung
der Ungleichheit – zu einem umfassenden Ausbau demokratischer Beteiligungs- und Kontrollrechte kommen, möglichst
viele Menschen müssen auf möglichst vielen Ebenen mitdiskutieren, mitentscheiden und mitgestalten können – auch in
der Zeit zwischen den Parlamentswahlen und in demokratisierten Bereichen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens.
Wir sind Souverän!
Die erste Grundvoraussetzung der Renaissance der Demokratie ist die Entwicklung eines Souveränsbewusstseins.
Souverän kommt vom lateinischen »superanus« und bedeutet »über allem stehend«. Während im Absolutismus der
König der Souverän war und über allem stand, sollte es seit der Aufklärung und den bürgerlichen Revolutionen die
allgemeine Bevölkerung sein. Doch der theoretische Anspruch findet sich in der Realität noch nicht wieder. Denn die
einzigen Souveränsrechte, über welche die BürgerInnen verfügen, sind die Wahl von Parteien und das letzte Wort bei
gesamthaften Verfassungsänderungen. Für echte Souveränität ist das zu wenig. Diese müsste zumindest auch
beinhalten, dass der Souverän:
1. eine bestimmte Regierung wählen kann;
2. die Regierung abwählen kann;
3. das Parlament in einem Gesetzesvorhaben korrigieren kann;
4. selbst Gesetze zur Abstimmung bringen kann;
5. die Verfassung aus eigener Initiative ändern kann;
6. einen Konvent direkt wählen kann;
7. wichtige Grundversorgungsbetriebe selbst kontrollieren und steuern kann;
8. den Rahmen für die Verhandlung von völkerrechtlichen Verträgen abstecken und über die Verhandlungsergebnisse
abstimmen kann.
Das Souveränsbewusstsein ist jedoch so schwach ausgeprägt, dass die meisten von uns nicht einmal bemerken,
dass uns dieses Basiswerkzeug eines echten Souveräns noch fehlt. In den Schulen lernen wir das nicht. Ich frage bei
Vorträgen oft, welches Instrument denn das erste sein müsste, das ein »Souverän«, der »über allem steht«, in der Hand
haben müsste. Meist folgt breites und anhaltendes Schweigen. Mitunter wird »wählen« angeführt. Und nur selten
kommt schließlich schüchtern: »Ein Gesetz beschließen?«
Wenn der Souverän wirklich »über allem steht« und der einzige Zweck der Demokratie die Umsetzung seines
Willens – des Gemeinwillens einer größtmöglichen Mehrheit – ist, dann müsste der Souverän auch jederzeit aus
eigener Kraft ein Gesetz initiieren und verabschieden können! Derzeit geht das weder in den Mitgliedsstaaten der EU
noch in der EU selbst, weil das Monopol bei unserer Vertretung liegt: in den Nationalstaaten bei Regierung und
Parlament, in der EU bei Kommission, Rat und Parlament. Die Ergänzung der indirekten (»repräsentativen«) um die
direkte Demokratie wäre eine konsequente Umsetzung des Prinzips der Gewaltentrennung zwischen dem Volk und
seiner Vertretung. Klarer getrennte Gewalten würden ein spürbares Mehr an Demokratie und größeres Vertrauen in
diese Staatsform bringen.
Ausbau der Gewaltentrennung
Selten ist ein Grundprinzip unumstritten. Das demokratische Prinzip der Gewaltentrennung ist ein solcher Glücksfall.
So selbstverständlich uns heute jedoch die Aufteilung der Staatsgewalt auf Parlament, Regierung und Justiz und deren
gegenseitige Kontrolle sind, so wenig denken und fragen wir noch nach, welcher Grundgedanke eigentlich hinter der
Teilung der Gewalten steht – was will das Prinzip im Kern? Es geht darum, dass die Macht nicht zu sehr konzentriert
sein darf und nicht missbraucht werden kann. Keine Instanz sollte deshalb im Verhältnis zur anderen zu mächtig
werden, denn dann wäre es mit der Freiheit – und in diesem Fall ist es die kollektive Freiheit: die Demokratie –
vorbei. Da so viel auf dem Spiel steht, ist das Prinzip der Gewaltentrennung einer intensiveren Reflexion und
konsequenten Weiterentwicklung würdig.
Die erste Stufe der Weiterentwicklung haben wir bereits begonnen zu erörtern: die effizientere Aufteilung der
Macht zwischen Souverän und Vertretung. Warum wählt sich ein Souverän überhaupt eine Vertretung? Weil in den
Nationalstaaten so viele Menschen leben, dass sich nicht mehr alle an allen Abstimmungen sinnvoll beteiligen können.
Die Basisdemokratie findet ihre Grenze in der Zahl der Mitglieder der Demokratie. Hinter der Wahl von Regierung
und Parlament steht somit Arbeitsteilung; es geht nicht um die Schaffung eines neuen Organs per se, das dem Souverän
übergeordnet ist. Regierung und Parlament sind nur seine (repräsentative) Vertretung, deren ausschließlicher Zweck
darin besteht, den (relativen) Mehrheitswillen des Souveräns umzusetzen. Dass die Regierung dies auch tatsächlich tut,
ist jedoch durch nichts garantiert; und die Verlockung, die vorübergehend gepachtete Macht zu missbrauchen, ist umso
größer, je weniger Kontrollrechte der Souverän in der Hand hat und je mächtiger die Interessengruppen sind, welche
an der Regierung zerren: »Nichts ist gefährlicher als der Einfluss privater Interessengruppen auf die öffentlichen
Angelegenheiten«, schrieb Jean-Jacques Rousseau schon 1762. 84 Deshalb wäre es fatal, wenn dem souveränen
Auftraggeber bis zur nächsten Auftragsvergabe (Wahl) die Hände gebunden wären und er nur noch hilflos hoffen
könnte, dass die Regierung seinem Willen entspricht. Dann passiert genau das, was jetzt immer öfter der Fall ist:
Regierung und Parlament verwandeln sich in eine »Diktatur auf Zeit«, weil sie den drängendsten Lobby-Gruppen
nachgeben und von ihnen durchsetzt oder sogar besetzt sind. Der übergangene Souverän kann protestieren und
demonstrieren, aber was hilft das schon, wenn er keine Rechte hat? Leuchtet es nicht ein, dass der souveräne
Auftraggeber seinen Auftragnehmer jederzeit korrigieren können muss, wenn dieser nicht macht, was er will?
Rousseau meinte, der Souverän müsse »die Macht, die er in die Regierung gelegt hat, einschränken, abändern und
zurücknehmen können, wann immer es ihm beliebt«. 85
Dreistufige direkte Demokratie
Konkret bedeutet das zum einen, dass die souveräne Bevölkerung ein Gesetz, das ihr Missfallen erregt, mit
Stimmenmehrheit ablehnen kann. Und zum anderen, dass sie selbst ein Gesetz, das nicht im »Angebot« der Regierung
enthalten ist, auf Schiene bringen und beschließen kann. Für beide Rechte kann dasselbe Verfahren angewandt werden:
die von einer wachsenden Zahl von Organisationen geforderte dreistufige direkte Demokratie. 86
– Erste Stufe: Jede BürgerIn oder Gruppe von BürgerInnen kann für ein gewünschtes Gesetz
Unterstützungserklärungen sammeln.
– Zweite Stufe: Findet dieser Gesetzesvorschlag eine ausreichende Zahl von UnterstützerInnen, zum Beispiel ein
halbes Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung, wird ein bundesweites Volksbegehren eingeleitet.
– Dritte Stufe: Überwindet dieses Volksbegehren – die Sammlung von Unterschriften im ganzen Land in den
Wahllokalen – eine weitere und größere Hürde, wie zum Bespiel drei Prozent, kommt es zur verpflichtenden
Volksabstimmung, deren Ergebnis rechtlich bindendes Gesetz ist.
– Die »dritte Stufe« gibt es auf der Bundesebene derzeit nur in der Schweiz. Dort sind die Bürgerinnen und Bürger
der eigentliche Souverän. In Deutschland, Österreich, Italien und den meisten anderen Ländern hat das Parlament
das letzte Wort. Und es kann auch gegen den Willen der Bevölkerung Atomkraftwerke bauen, dem Kapital den
Fluchtweg in Steueroasen öffnen, Patente auf Lebewesen legalisieren, systemrelevante Banken retten oder an einem
völkerrechtswidrigen Angriffskrieg teilnehmen.
Direkte Demokratie ist weltweit auf dem Vormarsch: Gab es von 1951 bis 1960 weltweit erst 52 nationale
Volksabstimmungen, so waren es von 1991 bis 2000 schon 200, und im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends
werden es an die tausend gewesen sein. 87 In Deutschland wurde das Instrument des Volksentscheids in den letzten
fünfzehn Jahren in den meisten Bundesländern sowie auf kommunaler Ebene eingeführt, in Bayern gibt es seit 1995 die
Bürgerentscheide. In Südtirol erringt die Bürgerbewegung für direkte Demokratie einen Etappensieg nach dem
anderen. Die erste Form der direkten Demokratie wurde 2005 eingeführt, blieb allerdings weit hinter den
Vorstellungen der InitiatorInnen aus der Bevölkerung zurück. Diese initiierten deshalb 2009 eine erste
Volksabstimmung, um das Modell der BürgerInnenbewegung durchzusetzen. Dieses gewann auch mit 83,2 Prozent
Zustimmung. Doch die Regierung erklärte die Abstimmung, weil sich statt der von ihr selbst für nötig beschlossenen
vierzig Prozent (»Mindestquorum«) nur 38,2 Prozent der Bevölkerung beteiligt hatten, für nicht bindend. Dennoch
versprach die Regierung ein verbessertes Gesetz. Die Entwürfe dazu ließen jedoch keine echten Verbesserungen
erwarten. Deshalb organisierte die Bewegung Anfang 2014 eine weitere Volkstabstimmung, in der das Landesgesetz
mit 65,2 Prozent der Stimmen abgelehnt wurde. Für Anfang 2015 wird nun ein neues Landesgesetz erwartet, das den
Vorstellungen der BürgerInnen näher kommt. 88
Trotz dieser allgemeinen Tendenz zu mehr Demokratie halten sich gegen direkte Demokratie weitverbreitete und
teils gravierende Bedenken und Ängste. Die Steuern könnten erhöht werden, Rechtspopulisten könnten gegen
Minderheiten hetzen, die Todesstrafe könnte wiedereingeführt werden. Kern der Angst: Die allgemeine Bevölkerung
sei nicht so aufgeklärt und vernünftig wie eine gewählte Regierung. Beim Schweizer Votum zum Minarett-Verbot
scheinen sich diese Befürchtungen bestätigt zu haben. Der Verein Mehr Demokratie Deutschland hat ein ganzes Buch
zu den Befürchtungen geschrieben. 89 Ich will hier auf die gängigsten Vorbehalte gegen direkte Demokratie eingehen
und anhand des Schweizer Minarett-Votums die Grundrechte-Frage klären.
Mythos 1: Wir haben doch die repräsentative Demokratie.
Der Trick ist alt: Wenn jemand nach Arbeitspausen oder Feiertagen ruft, kommt manchmal das Gegenargument: »Aber
Arbeit ist doch nichts Schlechtes!« Genauso wenig, wie Pausen und Feiertage die Arbeit infrage stellen, sondern diese
vielmehr produktiver machen, will direkte Demokratie die repräsentative nicht ersetzen, sondern sinnvoll ergänzen.
Das Parlament darf der reguläre Gesetzgeber bleiben, doch wenn es etwas beschließt, das dem Willen der SouveränIn
zuwiderläuft, muss diese die Möglichkeit haben, seine Vertretung zu korrigieren. Oder wenn alle zum Parlament
kandidierenden Parteien in ihrem Wahlmenü etwas missen lassen, das der SouveränIn wichtig ist, soll diese selbst das
Gesetz initiieren können. Oder wenn das Wahlvolk zwar mehrheitlich eine bestimmte Regierung wählt, in einer
bestimmten Sache aber etwas anderes will, dann soll es beides kriegen können: die Lieblingsregierung und die
Gesetze seiner Wahl. Entscheidend ist: Das letzte Wort muss bei der SouveränIn bleiben.
Mythos 2: Das Volk kann die Regierung ja abwählen.
Im ungünstigsten Fall erst nach fünf Jahren. Regierungen machen unpopuläre Entscheidungen gerne gleich nach der
Wahl, um mit nahendem Wahltermin immer mehr Zuckerl zu streuen. Bis dahin ist vieles vergessen, und oft läge es
nicht einmal im Interesse der enttäuschten WählerInnen, eine Regierung, die vieles richtig macht, aufgrund einer
groben Fehlentscheidung nicht mehr zu wählen. Parlamentswahlen sind generell »ineffizient«, weil nur zwischen
dicken Bündeln aus Wahlversprechen gewählt werden kann, von denen keines verbindlich garantiert ist – in
Koalitionen kann die Schuld dafür zudem dem Partner zugeschoben werden. Direkte Demokratie erlaubt dem
Souverän, einzelne Sachfragen herauszugreifen und selbst zu entscheiden. Die Demokratie wird um vieles effizienter
und befriedigender, wenn das Volk zwischen den Wahlen nicht entmündigt und machtlos ist, sondern eigeninitiativ
mitgestalten kann.
Mythos 3: Das Volk ist zu ungebildet.
Grundsatzentscheidungen sind in der Regel ethische Entscheidungen, und hier sind alle Menschen ähnlich kompetent –
unabhängig vom Bildungsgrad. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die gesellschaftlichen Eliten über ein
überdurchschnittliches Maß an Herzensbildung verfügen, im Gegenteil: Macht korrumpiert den Charakter. Ein starker
Intellekt allein garantiert für nichts, außer, dass Verbrechen subtiler begangen werden. Österreich hat zwei Erfahrungen
mit Volksabstimmungen: das Atomkraftwerk Zwentendorf und der EU-Beitritt. Dort, wo Regierung und Volk
unterschiedlicher Meinung waren, in der Frage der Kernkraft, war der Souverän klüger – obwohl damals eines der
aggressivsten Argumente war, dass die Bevölkerung die komplizierte Atomwissenschaft »nicht verstehe« und solche
»Sachfragen« doch von den Experten geklärt werden müssten. Das Problem der korrupten Expertokratie hat sich in
den letzten Jahren verschärft. Minister und Abgeordnete hören lieber auf LobbyistInnen als auf integre ExpertInnen.
Warum zogen dreizehn EU-Regierungen in den Irakkrieg? Das »Wissen«-Argument sticht nicht.
Mythos 4: Die Entscheidungen sind zu komplex.
Dieses Argument wurde beim Vertrag von Lissabon erfunden. Es waren jedoch erstens die Regierungen, die – anstatt
eine kurze und verständliche Verfassung vorzulegen, die USA kommen bis heute mit einem Fünfzehn-Seiten-Text aus –
ganz bewusst ein 500-Seiten-Monster schufen, um mit dem »Komplexität«-Argument die Souveräne von der
Mitbestimmung auszuschließen. Zweitens zeigten Befragungen, dass auch die meisten VolksvertreterInnen in den
nationalen Parlamenten nicht die leiseste Ahnung vom Inhalt des Lissabon-Vertrages hatten (und haben) und deshalb
bei der Abstimmung um nichts qualifizierter waren als die Bevölkerung. 90 Das Beispiel Frankreich lehrt vielmehr,
dass gerade eine Volksabstimmung zu hohem Informationsstand in der Bevölkerung führt: Bücher über den EUVerfassungsvertrag
waren vor der Volksabstimmung monatelang auf den Bestsellerlisten, mehr als eine Million
Exemplare wurden verkauft. In zahllosen öffentlichen Diskussionen wurden bis lange nach Mitternacht die einzelnen
Artikel leidenschaftlich diskutiert. Wenn das Volk mitbestimmen darf, ist es gar nicht so politikverdrossen, wie ihm
von »Diktatoren auf Zeit« gerne unterstellt wird.
Das gewichtigste Argument ist: Parlamentswahlen – die Wahl von Parteien – sind die komplexeste Entscheidung
überhaupt, hier müssen alle Fragen gleichzeitig in einer einzigen Wahl entschieden werden, und ausgerechnet diese
wird den WählerInnen »direkt« zugemutet. Wenn das Volk angeblich zu dumm ist, kluge Entscheidungen zu treffen,
warum sollte es dann diese Quadratur des Kreises schaffen?
Mythos 5: Dann kommen die Hetz-Populisten.
Das ist keine Besonderheit der direkten Demokratie. Hetz-Populisten kandidieren auch bei den Parlamentswahlen,
mitunter so erfolgreich, dass sie in die Regierung kommen. Wäre das nicht ein schlagendes Argument gegen Parteien
und Parlamente? Um des Hetz-Populismus Herr zu werden, bedarf es anderer Wege als der Ablehnung direkter
Demokratie. Ein heißer Tipp: Wenn Regierung und Parlament wirklich etwas gegen das Erstarken des
Rechtsextremismus unternehmen wollen, sollten sie endlich etwas gegen die wachsende Ungleichheit und soziale
Spaltung tun, nicht direkte Demokratie verhindern.
Mythos 6: The Sun , Bild und Kronen Zeitung würden zur De-facto-Regierung.
Ein weiteres Totschlagargument, besonders in Österreich. Dieses ist jedoch kein Argument gegen direkte Demokratie
(weltweit), sondern für ein österreichisches Mediengesetz, das Machtkonzentration verhindert. Davon abgesehen: Hat
die Kronen Zeitung etwa keinen entscheidenden Einfluss auf die repräsentative Demokratie? Darüber wurden Filme
gedreht. 91 Auch hier gilt: Nicht die repräsentative Demokratie gehört deshalb beseitigt, sondern die Macht der
Kronen Zeitung .
Mythos 7: Dann kommt ja die Todesstrafe.
Das reflexhafteste Argument gegen direkte Demokratie. Und prinzipiell korrekt: Theoretisch könnte eine Mehrheit für
die Todesstrafe stimmen. Dafür müssen Vorkehrungen getroffen werden. Allerdings gilt das unterschiedslos für die
indirekte Demokratie. Denn wer bewahrt uns davor, dass eine gewählte Regierung die Todesstrafe oder Folter
wiedereinführt? Guantánamo ist kein Ergebnis einer Volksabstimmung! Die Überwachung der Bevölkerung erst recht
nicht. Die jüngsten Einschränkungen der Bürgerrechte und die Auslandsmilitäreinsätze bis hin zu Kriegen gehen von
Parlamenten aus, nicht von den BürgerInnen! Wenn, dann bewahren uns die Verfassung oder die Europäische
Menschenrechtskonvention EMRK vor Menschenrechtsverletzungen. Die logische Konsequenz ist, dass diese letzten
Hüter der Grundrechte auch für die direkte Demokratie gelten müssen (gleich wie für die indirekte) – was soziale
Bewegungen, die für direkte Demokratie eintreten, klarerweise auch fordern.
Mein Argument dazu ist: Die Demokratie, egal ob direkte oder indirekte, ist nur ein Mittel. Die Gleichheit aller
Menschen, ihr gleicher Wert – die Würde – ist der Zweck. Aus dem gleichen Wert aller Menschen folgen die gleichen
Grundrechte aller, und eines davon ist das gleiche Mitspracherecht aller. Und das Mittel sollte verständlicherweise
niemals den Zweck abschaffen dürfen. Alle zeitgemäßen Initiativen für direkte Demokratie fordern deshalb, dass
weder schon erstrittene Grund-, Menschen- und Minderheitenrechte durch direkte Demokratie infrage gestellt werden
dürfen (genauso wenig wie durch indirekte) noch die Demokratie selbst: Eine Volksabstimmung über die Auflösung
des Parlaments und die Inthronisierung eines Königs ist theoretisch denkbar, sollte aber genauso wenig zulässig sein
wie die Einsetzung eines Diktators durch das Parlament. Minderheiten dürfen weder vom Parlament unterdrückt
werden noch vom Volk. Entweder die Grundrechte gelten für alle, oder sie gelten nicht oder nur für einige, dann ist es
aber keine Demokratie mehr, weil die Menschen nicht mehr gleich sind – womit sich jedes demokratische Verfahren
erübrigt. Hier muss die Verfassung die Grundrechte schützen.
Wir sind beim Schweizer Minarett-Problem: In der Schweiz gibt es die direkte Demokratie seit 1848, der Beitritt
zur Europäischen Menschenrechtskonvention, gegen die das Minarett-Verbot zweifach verstößt (gegen das
Diskriminierungsverbot und gegen die Religionsfreiheit), erfolgte erst 1974. Die SchweizerInnen sollten also klären,
ob ihnen der Verbleib in der EMRK wichtiger ist oder die Beibehaltung des fragwürdigen Rechts, via direkte
Demokratie auch Menschen- oder Minderheitenrechte zu beschneiden. Ich bin mir sicher, dass diese Entscheidung
zugunsten der Menschenrechte ausgehen würde.
Die Schweiz hat die Todesstrafe übrigens per direkter Demokratie abgeschafft. In einer Gesamtschau gibt es
zahllose Beispiele dafür, dass der Souverän, wo er selbst entscheiden durfte, »klüger« war als die Regierung. Die
weltbeste Bahn in der Schweiz, der Atomausstieg Österreichs und Italiens, die Verhinderung der Privatisierung der
Stadtwerke von Leipzig, die Entscheidung des Kantons Zürich, reichen Ausländern die Steuerprivilegien zu streichen,
die Verkürzung der Wehrpflicht in der Schweiz und der freiwillige Zivilersatzdienst: alles Verdienste direkter
Demokratie. Deshalb sind die Menschen in der Schweiz mit dem politischen System zufriedener als in Deutschland
oder Österreich, wo 82 Prozent der Ansicht sind, »dass die Regierung auf die Interessen des Volkes keine Rücksicht
nimmt«. Nur fünf Prozent glauben, durch Wahlen »in starkem Maße« mitbestimmen zu können. Die Hälfte der
Deutschen meint, über Wahlen »gar nicht« mitbestimmen zu können. 92 In Zeiten, in denen die Regierungen immer
mehr von den ökonomischen Eliten vereinnahmt werden (»Postdemokratie« 93 ), ist direkte Demokratie ein Gebot der
Stunde. Dass der Souverän dies will, sollte eigentlich Grund genug sein: 75 Prozent der CSU/CDU-Getreuen sind für
direkte Demokratie und 81 Prozent der SPD-Fans. Im absolutistischen Frankreich sagte Ludwig XIV.: »Der Staat bin
ich!« Heute agieren Regierungen und Parlamente nach dem Motto: »Der Souverän sind wir.« Im EU-Lissabon-Vertrag
maßen sich die VolksvertreterInnen, die diesen verfassten und beschlossen, an, zu entscheiden, worüber die
SouveränIn abstimmen darf und worüber nicht. Wenn Regierung und Parlament hinkünftig wissen, dass das letzte Wort
bei der SouveränIn liegt, dann werden sie diese ernster nehmen. Und die souveränen BürgerInnen können ihre
Politikverdrossenheit und Ohnmacht in demokratische Initiative umwandeln. »Direkte Demokratie heißt, die
Zuschauerhaltung zu verlassen«, formuliert es der Mitbegründer von Mehr Demokratie e.V. Gerald Häfner. 94
Trennung von verfassunggebender und verfasster Gewalt
Der nächste Schritt ist die Trennung der Gewalt, welche die Verfassung schreibt, von derjenigen, die durch die
Verfassung eingesetzt wird. In der Politikwissenschaft versucht man die »verfassunggebende Gewalt« (Souverän) von
der »verfassten Gewalt« (Parlament, Regierung) zu trennen. Der Gedanke dahinter leuchtet ein: Wenn die
demokratischen Institutionen die Spielregeln des Regierens selbst machen dürfen, dann werden sie dem Volk möglichst
wenige Rechte einräumen, um selbst die meiste Macht zu behalten. Schreibt hingegen das souveräne Volk die
Verfassung, dann wird es sich sehr wahrscheinlich das letzte Wort sowie umfassende Mitbestimmungs- und
Kontrollrechte reservieren.
Dieser Punkt ist besonders vor dem Hintergrund der Entwicklung der Europäischen Union relevant. Bisher wurden
die Grundlagenverträge stets von den Regierungen geschrieben. Die Bevölkerung war vom Entwicklungsprozess der
neuen Verträge ausgeschlossen und durfte auch über das Endergebnis nur selten abstimmen. Diese Praxis wird in dem
Maße problematischer, in dem die EU immer mehr Kompetenzen übertragen bekommt und staatsähnlichen Charakter
annimmt. Spätestens aber bei der sogenannten »EU-Verfassung« hätten die Regierungen die Souveräne ans Ruder
lassen müssen. Denn der Titel »Verfassung« weist auf die Gründung eines souveränen Staates hin, und die souveräne
Macht in einem Staat muss in den Händen der Bevölkerung liegen, und nicht bei der Regierung oder dem Parlament.
Tatsächlich war der »Verfassungsvertrag« sogar noch mehr als eine Verfassung: Er war Verfassung plus politische
Verträge in einem monströsen 500-Seiten-Konvolut zusammengepackt: ein abstoßendes Manöver gegen die
Demokratie.
Nachdem zwei von vier abstimmenden Souveränen das Vertragsmonster abgelehnt hatten, beschlossen die
Regierungen, dem Text die »Verfassungsschminke« abzunehmen (»Gesetze«, Außenminister, Flagge, Hymne), um ihn
als »gewöhnlichen« Vertrag durchdrücken zu können. Entlarvenderweise betonten sie gleichzeitig, dass 95 Prozent des
Inhalts »gerettet« worden seien 95 ; so wurde ein nahezu identischer Text ganz ohne Mitbestimmung der Souveräne
diesen aufgezwungen. Ein einziger Souverän, der irische, stimmte ab, weil die lokale Verfassung das vorschreibt.
Auch die Iren und Irinnen sagten nein, als dritter Souverän. Da sie aus der Sicht ihrer VertreterInnen »falsch«
abgestimmt hatten, mussten sie jedoch »wiederholen« – erneut ein schwerer Missbrauch der direkten Demokratie.
Dierekte Demokratie sollte ein Instrument des Souveräns sein, um die Regierung zu korrigieren, und nicht eines der
Regierung, um den Souverän zu korrigieren!
Wie könnte ein EU-Vertrag auf demokratische Weise zustande kommen? Siebzehn europäische Attac-Organisationen
haben hierzu einen konkreten Vorschlag unterbreitet: Damit die Menschen Vertrauen in die EU fassen und sich mit
dieser identifizieren können, müssen sie am Bau des »Hauses Europa« beteiligt werden. Wenn jemand anderer das
Haus baut und die Hausordnung festlegt, wird dieses Heim für viele nicht so gemütlich sein, wie wenn die
BewohnerInnen das Haus selbst gestalten und festlegen dürfen, welche Regeln darin gelten. Der Vorschlag von Attac
lautet: Aus der Mitte der Bevölkerung soll eine demokratische Versammlung gewählt werden, die sich aus
VertreterInnen aller Mitgliedsstaaten und mindestens fünfzig Prozent Frauen zusammensetzt und den neuen
Grundlagenvertrag, heiße er nun Verfassung oder nicht, schreibt. 96
Üblicherweise wird eine solche Versammlung Konvent genannt. Der Verfassungsvertrag war auch von einem
Konvent geschrieben worden, jedoch wurde dieser Konvent nicht vom Souverän eingesetzt, sondern von den
Regierungen. Der Konvent hatte auch keine demokratische Geschäftsordnung, denn die Letztentscheidung lag beim
dreizehnköpfigen Präsidium und nicht beim Plenum. Das Präsidium »overrulte« auch das Plenum, als sich dieses für
Volksabstimmungen in allen Mitgliedsstaaten über den Verfassungsvertrag ausgesprochen hatte: Der Konvent war eine
Farce. Der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker meinte: »Ich habe noch keine dunklere
Dunkelkammer erlebt als den Konvent.« 97 Kein Wunder, dass das Endprodukt dieses Finsterzimmers von drei der
fünf befragten Souveräne abgelehnt wurde!
Im Vorschlag von Attac sollten allein die Souveräne über das Ergebnis des demokratischen Konvents entscheiden.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen einen Vertrag annehmen, der a) von eigens dafür direkt gewählten
Vertrauenspersonen geschrieben wurde, die b) während der Textredaktion in regem Austausch mit den Menschen
stehen, und über den c) ausschließlich die Souveräne entscheiden, ist sehr hoch. Ich bin davon überzeugt, dass er in
allen Mitgliedsländern angenommen würde. Die zentrale politische Konfliktlinie verläuft nämlich nicht zwischen
»Nationalstaaten« oder den vielfältigen europäischen »Kulturen«, sondern zwischen den gesellschaftlichen Eliten und
der Bevölkerungsmehrheit innerhalb aller Staaten.
Dass das Endprodukt eines wirklich demokratischen Konvents wahrscheinlich angenommen wird, lässt sich
andernorts verifizieren. Im Kanton Zürich fand zwischen 1999 und 2005 der soeben beschriebene Prozess statt:
Direktwahl eines Konvents zur Neuschreibung der Verfassung, intensiver Austausch mit der Bevölkerung, Abstimmung
durch den Souverän, Annahme mit klarer Mehrheit von 64,8 Prozent. 98
Ein demokratisch entstandener Grundlagenvertrag würde nicht nur das schmerzlich vermisste Vertrauen der
BürgerInnen in die EU stärken, er würde das Projekt der europäischen Integration auch auf einen anderen inhaltlichen
Kurs bringen. Meine Wette ist: Anstelle des Vorrangs der Wirtschaftsfreiheiten, des Standortwettbewerbs, der
bedingungslosen Kapitalverkehrsfreiheit, des schrankenlosen Eigentumsrechts, des Aufrüstungsimperativs und der
mangelnden Gewaltenteilung würde eine demokratischere, nachhaltigere und friedlichere EU wachsen. Die
BürgerInnen würden vieles von dem, was in den jetzigen Verträgen steht, nie und nimmer hineinschreiben. Dafür
würden die Grundrechte an höchster Stelle stehen und einen gedeihlichen Rahmen für den inneren und äußeren Frieden
und nicht zuletzt für eine Gemeinwohl-Ökonomie bilden.
Wirtschaftskonvent
Konvente können nicht nur die Neuschreibung der Verfassung zum Ziel haben, sondern auch einzelne Kernelemente neu
fassen wie die Grundrechtecharta oder eben den Werte- und Zielrahmen für das Wirtschaften. Wie ich oben
argumentiert habe, weicht der gegenwärtige Werte- und Zielrahmen, die Systemspielregeln »Gewinnstreben« und
»Konkurrenz«, die beide keine Verfassungswerte sind, nicht nur geringfügig von unseren humanen Grundwerten ab, er
ist ihnen diametral entgegengesetzt. Die realverfasste Wirtschaft verletzt den Geist der Verfassungen. Laut Grundgesetz
muss »der Gebrauch von Eigentum zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen«, laut der Verfassung Bayerns »dient
die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dem Gemeinwohl«. Davon ist in der Wirtschaft wenig zu erkennen; die
Verfassungswerte Menschenwürde, Solidarität und Demokratie werden in der Wirtschaft kaum oder gar nicht
eingefordert. Gewinnstreben und Konkurrenz sind nicht die geeigneten Umsetzungsregeln für diese Grundwerte.
Der vorgeschlagene demokratische Wirtschaftskonvent würde die Verfassungsziele und -werte in Spielregeln
übersetzen, die durch effektive Anreize zur Umsetzung dieser Ziele und Werte führen. Die Vorschläge sind:
Gemeinwohlstreben als Ziel der Wirtschaftsakteure definieren, Messung der Zielerreichung mit einer Gemeinwohl-
Bilanz, Messung des volkswirtschaftlichen Erfolgs mit dem Gemeinwohl-Produkt, Förderung von Kooperation
zwischen den Unternehmen, Begrenzung und Bedingung des Eigentumsrechts.
Zehn bis fünfzehn fundamentale Spielregeln würden reichen. Der Wirtschaftsverfassungsteil hätte vermutlich auf
zwei bis drei Seiten Platz. Erstmals würden in einem demokratischen Verfahren die Spielregeln für die Wirtschaft
festgelegt. Diesen Luxus könnten wir uns zum hundertsten Geburtstag des Endes der Monarchien in Deutschland und
Österreich – 2018/19 – endlich gönnen.
Bildungskonvent
Ein weiterer Konvent könnte zum Thema Bildung eingerichtet werden. Im Bildungswesen werden die Weichen dafür
gestellt, welche Menschen die Gesellschaft von morgen formen werden: Haben sie gelernt, einander zuzuhören, zu
kooperieren und die Meinung des anderen zu achten? Oder haben sie gelernt, besser sein zu wollen als die anderen,
die Ellbogen auszufahren und für den persönlichen »Erfolg« alles andere außer Acht zu lassen? Lernen sie, was es
heißt, Demokratie zu gestalten (»zoon politikon«), oder verstehen sie sich nur als »Privatpersonen« (»idiotes«)?
Erfahren sie, was die Welt im Innersten zusammenhält, oder werden sie mit zusammenhanglosem Detailwissen
vollgestopft?
Es gibt wohl kaum einen Sektor, in dem Frustration auf allen Seiten so ausgeprägt ist wie im Bildungssektor:
SchülerInnen fühlen sich bevormundet und werden aggressiv; LehrerInnen fühlen sich ebenfalls überfordert und als
Sündenböcke an den Pranger gestellt; Universitäten werden verschult und finanziell ausgehungert; sie müssen sich
zunehmend wie Unternehmen verhalten und Drittmittel aus der profitorientierten Privatwirtschaft lukrieren; externe
Evaluierungsmethoden schaffen ein Klima der Überwachung und Kontrolle. Kinder und junge Erwachsene werden auf
die Bedürfnisse des Marktes und der globalisierten Wirtschaft abgestimmt, anstatt sich zu freien und kritischen
Menschen entfalten zu können.
Entspricht diese Entwicklung dem Ideal freier Bildung? Warum dürfen SchülerInnen und Eltern die Lehrpläne nicht
mitbestimmen? Warum macht das die Regierung allein? Gehen die Lerninhalte nicht alle an? Sind nicht alle
Bildungsbetroffenen einer Gesellschaft in Summe intelligenter als eine Regierung, an der die Interessengruppen
zerren?
Ein Ausweg wäre ein demokratischer Bildungskonvent, in den alle Betroffenen des Bildungssektors –
SchülerInnen, Studierende, Lehrende, Eltern – Personen ihres Vertrauens wählen, welche die Ziele und zentralen
Inhalte für das Bildungssystem sowie die Mitspracherechte der Betroffenen festlegen. Ich gehe jede Wette ein, dass
andere Inhalte und Unterrichtsfächer gewählt würden, als der 2009 amtierende ÖVP-Vorsitzende und Vizekanzler Josef
Pröll in seiner programmatischen Grundsatzrede »Projekt Österreich« ausgerechnet am Höhepunkt der Finanzkrise
vorschlug: »Financial Education« solle zum »Bestandteil jeder schulischen Ausbildung« werden. 99 Nachdem die
Banken zu globalen Kasino-Playern geworden sind, sollen jetzt alle Menschen lernen, wie man sich an den
Spieltischen am erfolgreichsten betätigt. Dem Fass den Boden schlug der Umstand aus, dass der einzige Vertreter
Österreichs in der gleichnamigen Arbeitsgruppe der EU-Kommission (nämlich zu »Financial Education«) der
Geschäftsführer der Hedge-Fonds-Firma Superfund ist, die ihren KundInnen Jahresfinanzrenditen von zwanzig bis
siebzig Prozent in Aussicht stellt. 100 (Die beiden deutschen Mitglieder kommen vom Banken- und vom
Versicherungsverband. 101 ) Ich bin mir sicher, dass eine repräsentative Vertretung von LehrerInnen, Eltern und
SchülerInnen niemals auf die Idee kommen würde, Financial Education zum verpflichtenden Unterrichtsgegenstand zu
machen und dabei Hedge-Fonds-Manager zu Rate zu ziehen; sie würden andere Prioritäten setzen als eine Regierung,
die immer mehr mit den finanziellen Eliten verschmilzt und deren Profitinteressen vertritt.
Daseinsvorsorgekonvent
Ein dritter Konvent könnte den Bereich der wirtschaftlichen Grundversorgung, auch »Daseinsvorsorge« genannt,
definieren: Welche Sektoren der Wirtschaft sind von so grundlegender Bedeutung (und in vielen Fällen am besten als
einheitlicher Betrieb zu organisieren), dass sie gänzlich unter der Kontrolle des Souveräns stehen sollten? Laut
Umfragen steht die Bevölkerung mit großer Mehrheit hinter einer öffentlichen Post, Bahn, Rentenversicherung und
Gesundheitsversorgung sowie öffentlichen Kindergärten und Universitäten. Diese Grundversorgungsbetriebe könnten
via Daseinsvorsorgekonvent zu »demokratischen Allmenden« weiterentwickelt werden. (Wo die Bevölkerung
abstimmen durfte, sprach sie sich für die Beibehaltung der öffentlichen Kontrolle über die Basis-Infrastruktur aus.)
Medienkonvent
Ein weiterer Konvent könnte zum Thema Medien arbeiten, um die mediale, ökonomische und politische Macht zu
entflechten und eine demokratischere Medienlandschaft zu kultivieren. Vielfalt und Dekonzentration von Macht könnten
auch hier durch negative Rückkoppelungen erzielt werden:
– kein Unternehmen darf Eigentum an mehr als einem Medienunternehmen besitzen;
– kein Medium darf zu mehr als 0,5 Prozent von einem Inserenten abhängig sein;
– neue Medien dürfen nur von mindestens fünf akkreditierten JournalistInnen und mindestens zehn gleich großen
EigentümerInnen gegründet werden.
Keine Regierung würde so eine Umverteilung der Medien- und Eigentumsmacht auch nur andenken. Der Einzige,
der diese Rettungsmaßnahme für die Demokratie in Angriff nehmen und durchsetzen kann, ist der demokratische
Souverän. Dafür braucht es jedoch direkte Demokratie.
Demokratiekonvent
Der wichtigste aller Konvente hätte deshalb die Aufgabe, die Spielregeln für die Demokratie neu zu schreiben. Seit
der Krise 2008 und der (Nicht-)Reaktion der Regierungen darauf wird immer mehr Menschen klar, dass das
gegenwärtige Demokratie-Modell eine Sackgasse für die Demokratie bedeutet. Viele zivilgesellschaftliche Initiativen,
von Mehr Demokratie e.V. über Bildungsproteste und Occupy-Bewegung bis zu Attac sowie Öko-Dörfer und
BürgerInnen-Kommunen, machen sich daher Gedanken über die Weiterentwicklung der Demokratie oder »democracia
real«, wie es die spanische »Indignados«-Bewegung formuliert. Meines Erachtens ist es eine der wichtigsten
Aufgaben der nächsten Jahre, dass alle Kräfte, die mehr Mitbestimmung wollen, gemeinsam ein innovatives und
zeitgemäßes Demokratie-Modell ausarbeiten und dieses dann zur gemeinsamen Forderung eines breiten
zivilgesellschaftlichen Bündnisses, mehr noch: einer historischen Bürgerrechtsbewegung machen.
Der Weg zur Umsetzung kann eine Volksinitiative sein, die Forderung nach einem Demokratiekonvent oder, in
diesem Fall, sogar eine Partei. Ich persönlich tendiere zur Ansicht, dass Parteien eine Sackgasse auf dem Weg zu
»echter« Demokratie sind, weil sie das Fraktionale betonen und nicht das Gemeinsame. Was eine Fraktion vorschlägt,
lehnen die anderen oft aus Prinzip – und nicht aus inhaltlichen Gründen – ab. Die Parteiendemokratie fördert die
Konkurrenz, doch die Demokratie sollte auf kooperativen Verfahren basieren. Ich kann hier noch keine ausgereifte
Lösung anbieten, aber ich ahne voraus, dass bald Wege und Prozesse gefunden werden, wie ein Gemeinwesen zu
befriedigenden und nachhaltigen Entscheidungen finden kann, ohne sich dabei in Fraktionen zu zersplittern und
aufzureiben.
Die Demokratie-Partei, falls es sie jemals geben wird, hätte ein einziges Ziel: das neue Demokratie-Modell in die
Welt zu bringen. Sie würde keine – auch noch so mehrheitsfähigen – »Inhalte« in ihr Programm schreiben, weil diese
zu sehr von der Neuschreibung der Entscheidungsregeln ablenken würden; außerdem können mehrheitsfähige Inhalte
nach der Umsetzung der neuen Regeln problemlos von den BürgerInnen selbst zu Gesetzen gemacht werden – auch
ohne Parteien.
Die Suche nach einem besseren Demokratie-Modell hat begonnen. Ich glaube, es ist das wichtigste politische
Projekt der nächsten Jahre.
Drei-Säulen-Demokratie
In Summe würden die vorgeschlagenen Maßnahmen das gegenwärtige eindimensionale Demokratie-Modell (nur
repräsentative Demokratie) zu einer dreidimensionalen Demokratie weiterentwickeln: indirekte (repräsentative),
direkte (Konvente und Volksabstimmungen) und partizipative Demokratie (Mitbestimmung in der Wirtschaft und
Daseinsvorsorge). Schlussendlich handelt es sich um eine bessere Arbeitsteilung zwischen den TrägerInnen der
politischen Macht und jenen, an die sie diese nur noch teilweise delegieren: zwischen der SouveränIn und ihrer
Vertretung. Auch das wäre noch keine »echte Demokratie«, lieber Jean-Jacques Rousseau, aber immerhin der nächste
Schritt dorthin.